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Wirtschaftslexikon
über 20.000 Fachbegriffe - aktualisierte Ausgabe 2015
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Europäische Integration

Die Zusammenarbeit der Länder Europas ist insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg ein vordringliches sicherheitspolitisches, wirtschaftliches und soziales Anliegen geworden. Nationale Souveränität und unterschiedliche Interessen der Staaten stehen diesen Belangen jedoch entgegen und bremsen das Integrationstempo seit jeher erheblich. Einzelinteressen der Nationalstaaten brachten regelmäßige Fortschritte, ebenso wie sie auch für drastische Rückschläge verantwortlich waren. Die Geschichte der europäischen Integration ist gekennzeichnet durch eine Regelmäßigkeit aus Krise und Reform.

Zur Jahrtausendwende steht die Zusammenarbeit, wegen der vordringlicheren Euro-Diskussion von der Öffentlichkeit fast unbemerkt, an einem entscheidenden Punkt ihrer Entwicklung. Mehr als die historischen Beispiele es demonstrieren sind heute Reformen zwingend, ohne die eine weitere Integration aussichtslos erscheint.

Die Anfangsjahre 1945-1955

Unterbrochen durch den Zweiten Weltkrieg, mussten bereits zuvor angeregte Maßnahmen zu einer Integration europäischer Staaten nach 1945, allerdings unter völlig neuen Voraussetzungen, wiederbelebt werden. Dabei spielten zwei Faktoren entscheidende Rollen: Zum einen lagen nicht nur Europas Städte in Trümmern, sondern auch die Wirtschaft und die Politik. Friedenssicherung, Annäherung und Wiederaufbau sowie der Versuch, den Anschluss an die Weltwirtschaft zu schaffen, schien durch gemeinsames Vorgehen eher praktikabel. Zum anderen herrschte, insbesondere gegenüber Deutschland, ein ausgeprägtes Misstrauen unter den europäischen Nachbarn. Um die wechselseitige Kontrolle zu gewährleisten, erschien Integration als eine Notwendigkeit.

Europas Politik der Nachkriegszeit litt unter unkalkulierbaren Einflüssen durch die Nationalstaaten. Eine Generalisierung der Ziele war nicht möglich, neben grundlegenden Übereinstimmungen spielten unterschiedliche nationale Interessen eine große Rolle. Der wichtigste Aspekt aller Verhandlungen blieb die langfristige Friedenssicherung, vor allem für Frankreich aber auch die Erhaltung der eigenen politischen Machtstellung in Europa. Nicht ohne Belang waren bald auch vorausschauende wirtschaftliche Interessen. Drei Bedürfnisse, die aus Sicht der Europäer im Nachkriegseuropa Aktivitäten zur Erreichung regionaler Integration lancierten sind:

  • Erstens die Schaffung größerer Wirtschaftsräume zur Überwindung der europäischen Wirtschaftskrise,
  • zweitens die Wiedergewinnung einer europäischen Identität gegenüber den Weltmächten USA und Sowjetunion
  • und drittens die Einordnung Deutschlands in ein europäisches Gefüge, das somit gleichzeitig die Ausübung von Kontrolle und Entwicklung ermöglichen sollte.

Zwei Faktoren, die Dringlichkeit der nationalen Anliegen und das politische Durchsetzungspotential, bestimmten folglich die Rollen, die die Akteure zu Beginn des europäischen Integrationsprozesses einnehmen konnten.

Deutschland hatte nach dem Krieg nicht die Möglichkeit an der europäischen Gestaltung nach eigenen Wünschen teilzuhaben, der Kriegsverlierer war auf den Spielraum angewiesen, den die Siegermächte ihm ließen. Europapolitik wurde nach dem zweiten Weltkrieg in Frankreich und Großbritannien gemacht und von den USA und der UdSSR nachhaltig beeinflusst. Doch war - vor allem auf französischer Seite - auch noch die Befürchtung vorhanden, Deutschland könnte wieder erstarkt einen neuerlichen Versuch unternehmen, Vorherrschaft in Europa zu erlangen. Nachdem Frankreichs Pläne, Deutschland völlig zu entmachten und unter den Siegermächten aufzuteilen, an dem Veto der Alliierten gescheitert waren, änderte der französische Präsident De Gaulle seine Politik dahingehend, Deutschland in eine gesamteuropäische Entwicklung einzubeziehen, anstatt es zu isolieren. Für alle Alliierten, und hier spielte das Interesse der USA die entscheidende Rolle, war es nützlicher, das Land in der Mitte Europas zum Partner, nicht zum Feind zu haben. Diese Tatsache war entscheidend für Deutschlands Zukunft, denn aus diesem Grund konnte an den Interessen Deutschlands bei der Neugründung des europäischen Hauses nicht gänzlich vorbeigegangen werden.

Einigungserfolge und Rückschläge

Dringliches Ziel der Europäer war zunächst die Sicherung einer Selbstverteidigung. Deutschlands Bedingungen für einen Verteidigungsbeitrag war die Herstellung der staatlichen Souveränität. Deshalb wurde, parallel zu den Verhandlungen über eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und die wirtschaftliche Zusammenarbeit, die Normalisierung der Beziehungen zwischen Deutschland und den Alliierten vorbereitet, die am 26.5.1952 im Deutschlandvertrag festgeschrieben wurde. Am darauffolgenden Tag unterzeichneten die Länder, die sich im April 1951 mit dem Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) bereits wirtschaftlich zusammengeschlossen hatten, den EVG-Vertrag, der anschließend allerdings noch in allen Unterzeichnerstaaten von den nationalen Parlamenten ratifiziert werden musste.

Zum Problem wurde, dass man sich mit diesem großen Integrationsfortschritt noch nicht zufrieden gab. Die Idee der föderativen politischen Union war plötzlich wieder ein Thema und wurde als Automatismus im EVG-Vertrag festgeschrieben. Die Europäische Politische Gemeinschaft (EPG) sollte in den Bereichen Wirtschaft, Verteidigung und nach einer Übergangszeit auch in der Außenpolitik die nationalen Regierungen ablösen, also eine übernationale, durch Exekutivrat, Ministerrat, Zweikammernparlament und Gerichtshof agierende Gemeinschaft sein - der Beginn des Bundesstaates Europa. So sollte die Verteidigung zwangsläufig zur Triebfeder politischer Einigung werden, weil als Grundlage für diese Aufgabe eine gemeinsame Außenpolitik als notwendig galt.

Das ging mehreren Verhandlungspartnern zu weit, allen voran Großbritannien. Sie waren nicht dazu bereit, so viel Souveränität an die Gemeinschaft abzugeben. Dieses Dilemma sollte bis in die heutige Zeit der europäischen Integration die Grenzen aufzeigen, damals führte es zur Nichtratifizierung des EVG-Vertrages. Das Projekt wurde anschließend aufgegeben und bis heute nicht verwirklicht. Mit diesen Plänen aus den Fünfzigerjahren hatte die Integration auf dem Papier und in der Vorstellung einiger Politiker eine Tiefe erreicht, die sie bis heute nicht wieder erlangen konnte. Das endgültige Scheitern der EVG schuf schlagartig ein Vakuum, dem alles bisher Erreichte zum Opfer zu fallen drohte. Europa war in eine erste Integrationskrise geraten.

Europäische Integration (1955-1980)

Im Juni 1955 beschlossen die Außenminister der EGKS-Staaten, die Integration mit einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und einem Atomabkommen (EAG) weiter zu führen. Der Lerneffekt wurde sichtbar: Zwischen der Vorlage eines Lageberichtes (Spaak-Bericht) im Mai 1956 und der Unterzeichnung der Römischen Verträge lagen trotz zahlreicher Unstimmigkeiten nur zehn Monate. Der Vertrag trat am 1.1.1958 in Kraft und belebte den Europagedanken neu.

Mit der EWG begann eine neue, pragmatischere Epoche europäischer Integration. Wachstumseffekte und Wohlfahrt sollten nun durch Arbeitsteilung und den gemeinsamen Markt realisiert werden. Handlungszwang hatte zu der veränderten Strategie geführt. Die ökonomischen Ziele nationaler Prägung bewirkten einen Aufschwung im Integrationsprozess. Die zwar unterschiedlichen, aber ausgeprägten Interessen der Gründer der neuen Europäischen Gemeinschaften, brachten neue Motivation. Zu nennen sind:

  • die verstärkte Nutzung der Kernenergie (Frankreich),
  • die Exportorientierung der Landwirtschaft (Frankreich und Benelux) und
  • die Exportorientierung der Industrie (Deutschland), die jeweils durch den Abbau von Handelshemmnissen profitieren würden.

Mitte der Sechzigerjahre provozierte Frankreich die Partnerstaaten mit einer Blockade aller Ministerratsbeschlüsse. Diese unter der Bezeichnung "Politik des leeren Stuhls", bekannt gewordene Machtdemonstration bedeutete den tiefsten Einschnitt und den Beginn der längsten und schädlichsten Stagnationsphase auf dem Weg zur wirtschaftlichen und politischen Integration Europas. Zeitlich einzuordnen ist sie in eine Phase rasanten Wirtschaftswachstums und erheblicher Integrationsfortschritte. Ursache für diese zweite markante krisenhafte Situation der EG waren erneut Unstimmigkeiten über die anzustrebende Tiefe der Integration. Wieder ging es um die Frage, welche Kompetenzen auf Gemeinschaftsebene übertragen werden sollten. Auslöser waren diesmal umwälzende Beschlüsse zur gemeinsamen Agrarpolitik, die deren Finanzierung und Gestaltung auf eine neue, supranationale Ebene gehoben hätten. Bereits 1962 war die Gemeinschaft laut EWG-Vertrag zur Schaffung des gemeinsamen Marktes in die zweite Stufe der beabsichtigten Wirtschaftsunion eingetreten. Eine Kompetenzerweiterung für supranationale Institutionen war in dieser Situation durchaus im Sinne der Mehrheit der Mitglieder. Die Institutionalisierung der wirtschaftlichen Integration durch EWG und EGKS verstärkte den neuerlichen Ruf nach einer Politischen Union. Prägende Unterschiede deutscher und französischer Europapolitik kamen hier erstmals deutlich zum Tragen: für Frankreich diente die Integration der Förderung des Nationalstaates. Jede Übertragung von Souveränität auf die Gemeinschaft war ein Verlust, weil Frankreich nationale Souveränität als Machtmittel empfand. Für Deutschland war europäische Politik auch ein Ersatz für nationale Identität, die Souveränitätsübertragung also ein Gewinn, weil Deutschland noch nicht in der Lage war, als Staat Akzente zu setzen.

Im Juni 1965 kam es dann zum Abbruch der Gespräche um die notwendige Vertiefung. Frankreich lehnte die Vorschläge zur Finanzierung der Agrarwirtschaft ab und verließ die Verhandlungen. Den bevorstehenden Souveränitätsübertragungen auf Gemeinschaftsorgane und vor allem dem Übergang zu Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat entzog sich Frankreich, indem es durch Abwesenheit im Ministerrat die entsprechenden, an das Einstimmigkeitsprinzip gebundenen Entscheidungen verhinderte. Mehr als sechs Monate blieben die Franzosen den Treffen fern und erzwangen so gegen den Willen der fünf anderen Mitglieder einen Kompromiss, der ihren Vorstellungen entsprach. Diese Form der Erpressung von Partnerstaaten war in der jungen Gemeinschaft ein Novum.

Konfliktbeseitigung ohne Problemlösung

Der Konflikt zwischen Frankreich und seinen Partnerstaaten wurde mit der Aussetzung des vertraglich vorgesehenen Übergangs zu Mehrheitsentscheidungen beigelegt. Der Kompromiss von Luxemburg war zwar eine Lösung für die akute Integrationskrise, die EU-Kommission war wieder beschlussfähig, aber er war kein Fortschritt, was die Perspektive für die folgenden Jahre anging. Nachdem Frankreich die Arbeit der Kommission erfolgreich blockiert und das Vertrauensbudget der Gemeinschaft restlos aufgebraucht hatte, musste man jetzt mit einem Kompromiss leben, der die Dynamik der Integration noch auf Jahre hinaus beeinträchtigen sollte. Dieser sah vor, Mehrheitsentscheidungen zu ermöglichen, aber Fragen, die für ein EG-Mitglied von "vitalem Interesse" waren, weiterhin so lange zu diskutieren, bis Einstimmigkeit erzielt werden könne. Diese Formulierung wurde in der Folgezeit dergestalt ausgelegt, dass bei fast keinem Beschluss das Mehrheitsprinzip angewendet werden konnte. Der Einfluss der Kommission blieb damit schwach, das Vorschlagsmonopol des EG-Organs zeigte kaum noch Wirkung. An einen Automatismus, aufgrund dessen der wirtschaftlichen Integration eine politische folgen könne, war vorerst nicht zu denken.

1970-1980: Europa-Euphorie und "Eurosklerose"

Dem Haager Gipfel folgte auf Grund dieser Erkenntnis der Versuch einer Wirtschafts- und Währungsunion (WWU). Aber Deutschland und Frankreich bevorzugten verschiedene Ansätze bezüglich der Verwirklichung einer WWU: Deutschland sowie die Niederlande bevorzugten den ökonomistischen Ansatz (Krönungstheorie), der die Angleichung der wirtschaftlichen Voraussetzungen und der Wirtschaftspolitik als Voraussetzung für eine gemeinsame Währung und eine integrierte Währungspolitik ansah. Frankreich und Belgien sowie auch die EG-Kommission bevorzugten hingegen den monetaristischen Ansatz, dessen Erwartung darin lag, durch die Festschreibung der Wechselkurse und die sich daran anschließende Einführung der gemeinsamen Währung eine Sogwirkung auf die Wirtschaft zu erzeugen.

Das Konzept für eine WWU (Werner-Plan) lag schon 1970 vor und sah deren stufenweise Verwirklichung innerhalb von zehn Jahren vor. In dieser Zeit sollten die in den Römischen Verträgen festgeschriebenen Freizügigkeiten und stabile Wechselkurse herbeigeführt werden. Außerdem war vorgesehen, binnen der gleichen Frist alle Ebenen der Zusammenarbeit in eine Europäische Union umzuwandeln. Doch nicht zuletzt auf Grund des konzeptionellen Gegensatzes zwischen Deutschland und Frankreich wurde die differenzierte Planung der Ausschüsse so nicht verwirklicht. Eine wirkungsvolle WWU wäre erneut nicht ohne eine erhebliche Stärkung der Gemeinschaftsorgane möglich gewesen. Eine gemeinsame Struktur- und Regionalpolitik hätte für einen horizontalen Finanzausgleich zwischen den Mitgliedern sorgen sollen, dafür wäre ein supranationales wirtschaftspolitisches Gremium mit unabhängigen Entscheidungsbefugnissen und ein Zentralbankensystem notwendig gewesen. Frankreich hatte bezüglich des Souveränitätsverlustes nach wie vor erhebliche Einwände, dennoch entschloss sich der Ministerrat zur Umsetzung erster Schritte zu einer WWU, die mit der Annäherung der Wechselkurse ab 1971 begonnen wurde. Die sich im gleichen Jahr zuspitzenden Turbulenzen des Weltwährungssystems und die innerhalb der EG einsetzende Rezession ließ das Werner-Plan-Projekt WWU jedoch zunächst scheitern.

Erst die deutsch-französische Initiative der Regierungschefs Schmidt und Giscard d`Estaing (1978) ermutigte die Mitglieder zu einem neuen Anlauf für einen Währungsverbund. Das Europäische Währungssystem (EWS) bildete einen Kooperationsrahmen für die Angleichung der Wirtschafts- und Währungspolitik, die sich allerdings erst Jahre später, durch die Einheitliche Europäische Akte (EEA) und den EU-Vertrag durchsetzen sollte. Die WWU selbst war aber nicht Inhalt der EWS-Initiative. Zwar erachteten die Mitgliedsstaaten die WWU als notwendiges Instrument für die erfolgreiche Fortführung der wirtschaftlichen Einigung, doch verhinderten zu dieser Zeit die schlechten Wirtschaftsdaten die weitreichende Form der Vergemeinschaftung. Der Integrationsprozess, hauptsächlich repräsentiert durch die kleiner werdenden Fortschritte des Gemeinsamen Marktes, stagnierte trotz der währungspolitischen Initiative auch zu Beginn der Achtzigerjahre: Negatives Wirtschaftswachstum, Arbeitslosigkeit, steigende, sektorale und regionale Strukturprobleme, dazu Streit um die Finanzierung des Agrarmarktes und um die Gestaltung des EG-Haushaltes förderten den neuerlichen Entsolidarisierungsprozess. Die Finanzierungsschwierigkeiten rückten die Gemeinschaft zusätzlich in ein schlechtes Licht in der Presse.

Kaum Integrationsfortschritte Mitte der Achtzigerjahre

Trotz zahlloser Treffen auf Regierungsebene, Reformideen und mancher Teilerfolge kam die Integration bis Mitte der Achtzigerjahre keinen entscheidenden Schritt weiter, weil sich die Mitglieder nicht einig waren. Die Ziele des EG-Vertrags waren erst zum Teil verwirklicht. Der Gemeinsame Markt hatte nach Anfangserfolgen die Dynamik verloren und wurde zwischenzeitlich geprägt von Protektionismus. Die mit ihm einher gehenden vier Freiheiten (Freiheit im Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital innerhalb der EG/EU) wurden nicht erfüllt, weil sie teilweise an unterschiedlichen nationalen Rechtsvorschriften scheiterten. Eine gemeinsame Wirtschaftspolitik existierte noch nicht, und die EPZ war unverbindlich und vom Willen der Nationalstaaten abhängig. Der Agrarmarkt bescherte der Gemeinschaft enorme Ausgleichszahlungen, die sich noch erhöhen sollten, als später die im primären Sektor sehr aktiven aber unproduktiven neuen Mitglieder aufgenommen wurden.

Dazu kam ein Kompetenzgeflecht, das den Gemeinschaftsorganen keinerlei Entscheidungsgewalt einräumte. Die Entscheidungen über die koordinierenden Bereiche wurden nach wie vor von den nationalen Regierungen getroffen. Gleichzeitig aber war der politische Wille zu durchgreifenden Reformen dort nicht vorhanden, und die supranationalen Gremien waren auf Grund ihrer begrenzten Möglichkeiten nicht in der Lage, Fortschritte herbeizuführen. Zusätzlicher Druck entstand durch die Ende der Siebzigerjahre aufgenommenen Verhandlungen zur Süderweiterung. Wie sollte eine wirtschaftliche Konvergenz zwischen den schon vor der Erweiterung heterogenen Wirtschaften der Mitglieder stattfinden, ohne dass die Gemeinschaft in der Lage war, entsprechende gemeinsame Programme innerhalb einer integrierten Regional- und Strukturpolitik auf den Weg zu bringen? Erneut stand das Prinzip der umständlichen Entscheidungsfindung in Frage.

Diese Phase der Integration erhielt auf Grund der massiven Stagnation, die auf viele Bereiche der EG übergriff, in der Literatur die Bezeichnung "Eurosklerose". Die Erkenntnis der eigenen innen- und außenpolitischen Machtlosigkeit gewann nach zahlreichen misslungenen Anläufen zur Europäischen Union an Deutlichkeit, und die nicht erwartungsgemäß ausgebauten Wirtschaftsbeziehungen ließen Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Integration aufkommen. Der erst zum Teil verwirklichte Binnenmarkt galt aber als wichtige Errungenschaft für europäische Handelsbeziehungen, Kooperation und Konvergenz sowie als Stütze für die internationale Wettbewerbsfähigkeit Westeuropas. Trotz Uneinigkeit über die anzustrebende Tiefe zukünftiger Integration war eine Stagnation keinem der Mitglieder recht. Erst dieser Druck regte ernsthafte Reformbestrebungen an.

Europäische Integration (1980-2000)

Deutschlands Außenminister Genscher hatte schon 1981 die Politische Union wieder in den Mittelpunkt der Integration gerückt. Eine Europäische Akte (EEA) sollte Ziele, die bisher immer wieder verworfen wurden, erstmals festschreiben. Der Genscher-Colombo-Entwurf sah die stärkere Verbindung von EG und der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ), mit dem Ziel einer politischen Union vor. 1983 gab der Europäische Rat - den Entwurf aufgreifend - eine feierliche Erklärung über eine Europäischen Union ab, woraufhin das durch die erste Direktwahl in seiner demokratischen Legitimation gestärkte Parlament einen Vertragsentwurf zur Gründung einer Europäischen Union vorlegte.

Noch einen Schritt weiter führte das Weißbuch der Kommission von 1985, das einen detaillierten Maßnahmenkatalog und genauen Zeitplan für die Vollendung des Binnenmarktes enthielt. Es stand für den so genannten Binnenmarkt `92, der die Möglichkeit zur umfassenden Deregulierung der von jahrelangen staatlichen Interventionen durchzogenen Märkte bot. Mit solchen genauen Zielvorgaben konnten die Akteure besser umgehen, als mit den vorherigen jahrelangen Debatten. Deshalb kam es anschließend zu einer Regierungskonferenz, auf der über den Zusatzvertrag zu den Römischen Verträgen verhandelt werden konnte.

Gemeinsames Reformkonzept von Kohl und Mitterrand bringt Durchbruch

Der Durchbruch gelang, als Deutschland und Frankreich in bilateralen Vorarbeiten einen Kompromiss erzielten. Kohl und Mitterrand legten beim Mailänder Gipfel (1985) gemeinsam ein ausgearbeitetes Reformkonzept vor und machten damit zweierlei klar: erstens die Bereitschaft, die Führung im Reformprozess zu übernehmen und zweitens die Absicht, eine politische Union auch dann anzustreben, wenn einige Mitglieder nicht mitziehen würden. Deutschland und Frankreich bestimmten damit eine Art des "Europa der zwei Geschwindigkeiten" und setzten sich damit auch gegen deutliche Kritik der Partnerstaaten durch. Das Ergebnis des Gipfels war der Beschluss über die Änderung der Römischen Verträge. Im gleichen Jahr folgten die Reform des institutionellen Systems, die Erweiterung der Gemeinschaftskompetenzen und die rechtliche Verankerung der außenpolitischen Zusammenarbeit durch die EEA, die im Februar 1986 von den mittlerweile zwölf Mitgliedern unterzeichnet wurde.

Der Europäische Binnenmarkt wurde zum neuen Motor der Integration. Eine wichtige Errungenschaft für die Handlungsfähigkeit der Gemeinschaft war auch die Festlegung auf Ministerratsentscheidungen durch qualifizierte Mehrheit für weite Bereiche des Binnenmarktes, womit eine neue Dynamik in die Entscheidungsfindung kam. Der Grundstein für den Aufschwung der Integration war gelegt. Drei Faktoren kristallisierten sich als förderlich heraus:

  • Erstens: Der Frust vieler Anläufe und Fehlschläge zur institutionellen Reform setzte die Gipfelteilnehmer unter Erfolgsdruck
  • Zweitens: Deutschland und Frankreich erarbeiteten, trotz anfänglicher deutlicher Unstimmigkeiten, in langen Vorverhandlungen einen bilateralen Kompromiss und ergriffen dann gemeinsam die Initiative
  • Drittens: Mit dem gemeinsamen Binnenmarkt diente ein Fortschritts-Bereich fortan als zukunftsweisender Integrationsmotor.

Betrachtet man diese ersten rund 40 Jahre europäischer Nachkriegs-Integration, wird schnell das Dilemma zwischen gemeinschaftlicher Effizienz und nationalem Nutzen deutlich. Die Ursachen für das gehemmte und unregelmäßige Vorankommen der Integration liegen vor allem in der institutionellen Organisation begründet.

Der heutige Stand und die Chancen der europäischen Integration

Die Integration Europas war zu keiner Zeit ein kontinuierlicher und homogener Prozess, zu unterschiedlich waren oft die Ziele, die Motivationen, die Ansprüche und die bevorzugten Mittel der nationalen Regierungen, ihre Vorhaben auf der Gemeinschaftsebene umzusetzen. Trotz Blockaden und Stagnationen kam die Integration aber nie zum Stillstand. Stets besannen sich die Mitgliedsstaaten auf die letztlich erstrebenswerte Zusammenarbeit, gleich ob es sich um erste Erleichterungen im Handel, um die Verwirklichung des Binnenmarktes oder die Einführung einer gemeinsamen Währung handelte. Über diesen Zielen stand als kontinuierliche Motivation der Friedensaspekt und die Suche nach Identität. Zwar verliefen nationale und europäische Ziele manchmal entgegengesetzt, doch wog der Drang zur Integration immer so schwer, dass er sich in allen Konfliktsituationen durchsetzte. Um die Integration voranzutreiben, bedurfte es darüber hinaus während der gesamten Entwicklung Akteuren, die bereit waren, Ziele und Akzente zu setzen. Die Funktion als Vordenker und Initiator kam öfter als allen anderen Staaten Deutschland und Frankreich zu. Nicht zuletzt ihr Interesse an der Gemeinschaft und ihre bilaterale Vorarbeit im Vorfeld bedeutender Konferenzen und Vertragsverhandlungen hat deren heutiges Erscheinungsbild geprägt. Andererseits aber hemmten die nationalen Interessen dieser Länder auch oft die Entwicklung und erschwerten einen flüssigen Fortgang.

Aktuell ergeben sich jedoch neue Hindernisse für die Integration. Mit dem politischen Umbruch in Osteuropa und der Deutschen Wiedervereinigung entstanden in den vergangenen Jahren neue Herausforderungen an die EU: Rund ein Dutzend Reformländer drängt in die verheißungsvolle Gemeinschaft, und Deutschland und Frankreich müssen ihre Partnerschaft neu definieren. Seit dieser Veränderung in der deutsch-französischen Machtkonstellation, ist das Verhältnis jedoch geprägt von Divergenzen und Ineffektivität. Gleichzeitig tritt die Union trotz des Starts der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) und des Euro auf der Stelle. Vielfältige Aufgabenbereiche sind entstanden. Um sie zu bewältigen, sind umfassende Reformen nötig, doch in vielen Bereichen gibt es scheinbar unvereinbare Kontroversen im Europäischen Rat. Auch die bescheidenen Ergebnisse der Amsterdamer Vertragsverhandlungen belegen, dass Deutschland und Frankreich ihrer angestammten Rolle als Vorreiter in Europa im Moment nicht gerecht werden können. In einer Situation starken Handlungsbedarfs scheint die EU und die deutsch-französische Achse unfähig beziehungsweise unwillig, die notwendigen Reformen einzuleiten. Für Frankreich war und ist jede Kompetenzübertragung auf die Gemeinschaft ein Souveränitätsverlust. Deutschland muss abwägen, ob ein alleiniges Engagement in Osteuropa in Frage kommt. Der einstige Kriegsverlierer benötigt darüber hinaus die EU nicht mehr zur Identitätsfindung, ein neues deutsches Selbstbewusstsein kann durchaus negativen Einfluss auf die Entwicklung der europäischen Integration nehmen. Lediglich die wirtschaftlich und politisch schwächeren Mitglieder stehen überwiegend hinter der konsequenten Fortführung der Integration im herkömmlichen Stil. Wenn es wie im Fall der Osterweiterung aber an ihre angestammten Rechte und Finanzierungsfragen geht, regt sich auch hier Widerstand.

Dazu kommt, dass sich im Falle von Uneinigkeit die Instrumente der Union vielfach als zu schwach erweisen, was der Integration teilweise über Jahre die Dynamik raubt. Es stellt sich heute die Frage, ob das Prinzip der starken Nationalstaaten für die Integration noch geeignet ist, ob stärkere Supranationalität der Weg zu einer reibungsloseren Entwicklung und auch die Lösung für nationale Probleme sein kann, oder ob, nachdem diese Epoche nach den Weltkriegen zunächst beendet erschien, die Zeit der selbstständigen Nationalstaaten wieder anbricht. Muss das undemokratische System der Union generell überdacht werden oder genügen kleinere Reformpakete, beispielsweise für den unwirtschaftlichen Agrarmarkt, für die kaum in Erscheinung tretende Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) oder für die ineffektiven Entscheidungsmechanismen (keine Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat, stattdessen Vetorecht), um der neuen Situation gerecht zu werden?

Nach einigem Zaudern in verschiedenen Mitgliedsstaaten, haben sich die Regierungschefs letztlich für die Erweiterung der EU ausgesprochen. Doch ist diese nur mit den genannten Reformen machbar. Die werden den Staaten jedoch mehr Souveränität abverlangen als je zuvor, denn um die Handlungsfähigkeit und die Finanzierbarkeit der Gemeinschaft aufrecht zu erhalten, muss ein höheres, stärker supranationales Integrationsniveau erreicht werden. Die nationalen Interessen von noch mehr Mitgliedern können nicht mehr in Form von Vetorecht berücksichtigt werden. Außerdem steht in Frage, ob die EU schon reif ist für diesen weiteren Schritt zur Solidargemeinschaft. Die sehr hohen Anforderungen führten den Integrationsprozess in eine Phase der Reformmüdigkeit, an der Vertiefungs- und Erweiterungsabsichten sowie bestehende Koalitionen zu zerbrechen drohen. Von der öffentlichen Meinung, die sich seit Monaten nur auf die Entwicklung des Euro-Wertes konzentriert, ist die europäische Integration fast unbemerkt an einen Scheideweg geraten.



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